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VERSAGEN DER ERINNERUNG
Keine Zeit ist so versunken im Dämmer der Erinnerung wie die Kindheit.
Der schwache Abglanz eines Traumes beim morgendlichen Erwachen - mehr
scheint nicht zu bleiben. Nein, da ist kein stetig fließender Strom der
Szenen, Erlebnisse und Empfindungen. Es sind stets die gleichen
Ausschnitte, die aufleuchten beim Versuch, die Zeit wieder aufzuspulen,
zurückzukehren in die Tage des Kindseins. Von vielen Bildern weiß man
nur, man sieht sie nicht mehr. Herangetragen meist von anderen taugen
sie kaum als Spotlights in das Dunkel früherer Zeit, denn so lebhaft
die Schilderungen auch sein mögen, die Stimmen sind nicht mehr zu
hören, die Szenerie tritt nicht aus dem Nebel des Vergangenen, die
Wahrnehmung stellt sich nicht wieder ein. So ist es eben nicht weit her
mit der Erinnerung an die Jahre der Kindheit: ein Flickenteppich, der
schon längst jeden Zusammenhalt verloren, ein Labyrinth voller
Sackgassen, verschlossener Gänge und Kammern.
Im scharfen Kontrast dazu aber die Allgegenwart des Kind-gewesen-Seins.
Keine Wurzel persönlichen Tuns und Lassens, die nicht bis in jene Zeit
zurückverfolgt wird. Kein Charakterzug, der seine Bestimmung nicht
schon durch kindliches Erleben erhält. Keine Haltung, die nicht schon
im Kind zu entdecken war. Aller Sinn und Widersinn des eigenen Lebens
spiegelt sich in der kindlichen Existenz. Wer will und kann sich dem
entziehen?
Die Medien dröhnen von der Beschwörung der Kindheit. Kind gewesen zu
sein, scheint spannender als heutiges Handeln. Niemand wird von ihnen
entlassen, der nicht vorher Leid und Freud seiner Kindheitstage bekannt
hätte. Was ist dies anderes als ein heimliches Anerkennen des Fatalen.
Trotz allzeit hochgehaltener Freiheits-Mythen macht erst die Annahme
eines Schon-Gesetzten, der Verweis auf Schicksal das Uneingelöste der
eigenen Existenz erträglich.
Aufgehoben ist damit keinesfalls das Mißverhältnis zwischen den wenigen
Erinnerungsbildern aus der Kindheit und deren ständiges
Eingeflochtensein in alle nur möglichen Lebenszusammenhänge. Auch wenn
die persönliche Kindgeschichte einem Puzzle gleicht, dessen meiste
Teile verloren gegangen sind, so müssen doch die verbliebenen häufig
als einzige Antwort auf die Sinnfragen heutigen Tuns herhalten.
Dieser Konflikt ist aber nur ein scheinbarer. Er löst sich auf in der
nüchternen Frage: Aber wollen, können wir uns denn erinnern? Ist es
nicht so, daß nur die wenigsten an ihrem Gewordensein interessiert
sind, daß die meisten sich den Mühen und auch den unweigerlichen
Schmerzen der Erinnerung verweigern? Gerade jene, die gar nicht genug
von den Farben und Tönen der Kindheit berichten können, erwecken den
Verdacht, von jener Zeit in Wirklichkeit nur wenig zu wissen. Wirklich
Authentisches, sofern noch spurenhaft im Gedächtnis, wird häufig genug
verdrängt.
Wir alle stehen nämlich in der Not, die vergangenen Tage der Kindheit
jenem Bild anzupassen, daß man heute, jetzt, in dem Moment von sich
hat. Nicht umgekehrt, nein, die Erinnerung ist es, die sich einem
Konsistenzgebot unterwerfen muß: ein Ganzes zu sein, wenn schon nicht
im Realen, so in dessen erinnertem Abbild. Dies freilich stellt
Erinnertes in Frage. Wird doch im Nachhinein Vergangenes und
Geschehenes umgebaut und umgedeutet. Nicht als Willensakt wird sich das
vollziehen, sondern in Folge heutigen Selbst-Empfindens. Die Erzählung
muß immer dem gegenwärtigen Lebenszweck folgen, die Zwiespälte und
Ambivalenzen der Kindheit werden vergessen - oder gerade hervorgeholt,
ja, erfunden. Denn die Erinnerung in ihrem Geklammertsein an die
Gegenwart will kein Sich-nahe-Kommen, kein Verstehen des Gewordenseins,
eher will sie Rechtfertigung, Entschuldung.
So wandelt sich die eigene Kindheit zunehmend zur Legende. Anstatt
authentischen Berichts immer wieder Interpretation und eben auch
Erfindung. Der eigenen Biographie ist nicht zu trauen - ein Artefakt,
eine Konstruktion, ein Wunsch.
Dies alles könnte nun wirklich auch still geschehen. Wieso dieses
laute, emsige Drehen an der Gebetsmühle Erinnerung? Aber die Leerstelle
Kindheit löst nunmal Unruhe aus. Das mangelnde Fundament ist nur allzu
spürbar. Verdrängung muß beredt geschehen, will sie erfolgreich sein.
Kein anderer Weg bleibt, zu verdecken, daß man die Kindheit verloren
hat, als sie zu beschwören. Psychiater, ein ganzes Heer von Therapeuten
ziehen daraus ihren Saft. Allein, das Tragische der Erinnerung, ihr
Bestimmtsein aus der Gegenwart, machen auch sie kaum offensichtlich.
So bleibt es bei dem erstaunlichen Paradoxon: das Verschwinden der
Kindheit führt zu ihrer Allgegenwart. Der Verlust wird nicht
ausgehalten, das frühere kindlich unschuldige Sein wird zum mythischen
Urgrund stilisiert, der alles und jedes erklärt, der die Risse des
Lebens, die toten Träume, das stete Versagen so beruhigend natürlich
erscheinen läßt. Das kleine Kind, das wir waren, wird zum Trugbild. Und
wie ein Fetisch gewinnt es Macht über uns.
Madeleine Heublein |
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